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Wie der Krieg unsere Bildungs- und Jugendarbeit verändert

Statement des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks (IBB) zum ersten Jahrestag des Angriffs der russischen Armee auf die Ukraine.

Seit dem 24. Februar 2022 verteidigt sich die Ukraine mit all ihren Möglichkeiten gegen den russischen Angriff. Durch den Krieg ist das Leben von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern aus den Fugen geraten. Gleichzeitig bedroht der Krieg die Grundsäulen der Europäischen Union als einem demokratischen Friedensprojekt. Die Entwicklungen des vergangenen Jahres sind dementsprechend nicht ohne Folgen für unsere Bildungs- und Jugendarbeit als Internationalem Bildungs- und Begegnungswerk (IBB) und für die unserer Partner geblieben.

In dem Programm Generation Europe – The Academy koordiniert das IBB ein Netzwerk von mehr als 40 Organisationen der Jugendarbeit aus 14 europäischen Ländern, die sich in 15 Projektpartnerschaften für die aktive Teilhabe von jungen Menschen einsetzen – am jeweiligen Wohnort und europaweit. Zum Netzwerk gehört auch die Deutsch-Ukrainische Gemeinschaft der Jugendarbeit (DUGA). Als die Aktivist*innen der Partnerorganisation vor dem Krieg und den russischen Besatzern ins Ausland fliehen mussten, wurde ihre Unterstützung zur ersten Hilfsaktion des Netzwerks. Dank einer Förderung durch die Stiftung Mercator kann der IBB e.V. mit Katia Henrikh sogar eine DUGA-Aktivistin zunächst für ein Jahr als Social-Media-Managerin im Programm beschäftigen.

Generation Ukraine

Zu den großen Vorhaben von Katia Henrikh gehört das Filmprojekt „Generation Ukraine“, das sie gemeinsam mit der ukrainischen Produktionsfirma Minimal Movie verwirklicht. Für die Aufnahmen ist Katia im Herbst 2022 mehrere Wochen durch die Ukraine gereist. Entstanden sind Bilder über den Alltag ukrainischer Jugendlicher im Krieg, von dem sie sich nicht ihre Lebens- und Liebesträume nehmen lassen wollen. Mit dem Film verfolgt Katia das Ziel, der jungen Generation in der Ukraine eine Stimme zu geben und einen Raum für Dialog, Frieden und Hoffnung zu schaffen.   

Über Licht in Zeiten der Dunkelheit: Katia Henrikh (Generation Europe/IBB e.V.) und Roman Blazhan (Minimal Movie) präsentieren Arbeitsmaterial zum Filmprojekt „Generation Ukraine“.
Über Licht in Zeiten der Dunkelheit: Katia Henrikh (Generation Europe/IBB e.V.) und Roman Blazhan (Minimal Movie) präsentieren Arbeitsmaterial zum Filmprojekt „Generation Ukraine“.

Erste Filmausschnitte konnten die Projektleiter*innen aus den Partnerorganisationen bei der Netzwerkkonferenz von Generation Europe Anfang Februar 2023 in Hattingen sehen. Beim Austausch zeigte sich, wie sehr der Krieg die Jugendarbeit verändert hat. Einerseits müssen die beteiligten Organisationen oftmals zusätzliche humanitäre Aufgaben bewältigen, damit die Grundversorgung ukrainischer Kriegsflüchtlinge gewährleistet werden kann. Andererseits ist der Bedarf an politischer Bildung und demokratiepädagogischen Angeboten gestiegen. Denn die Jugendlichen wollen über die Auswirkungen des Kriegs auf ihr Leben und ihre eigene Rolle als Bürger*innen diskutieren – was nicht zuletzt angesichts der europaweit geführten öffentlichen Kontroversen um die militärische Unterstützung der Ukraine sowie der wachsenden Gefahr durch Desinformationskampagnen in den sozialen Medien eine überaus wichtige Aufgabe ist.

Vielfache Belastungen

Der Versuch, beiden Bedarfen gerecht zu werden, führt jedoch zu einer systematischen Überforderung der Organisationen in der Jugendarbeit – zumal sie sich noch nicht von den Belastungen der Pandemiezeit erholt haben. Eine Anpassung der Fördersätze an die Preissteigerungen ist bisher nicht erfolgt, es fehlt an Räumen für die Jugendlichen und an Weiterbildungsmöglichkeiten für die Fachkräfte, um mit innovativen Methoden auf die neuen Herausforderungen reagieren zu können. Nur wenn die Politik diese strukturellen Schwierigkeiten wahrnimmt und Lösungen ermöglicht, wird die Jugendarbeit die an sie gerichteten hohen Erwartungen erfüllen können.

Kooperation in Kriegszeiten

Trotz oder vielleicht auch wegen der vielfachen Belastungen haben die Erfahrungen seit Beginn der russischen Aggression den Zusammenhalt innerhalb des europäischen Netzwerks von Generation Europe – The Academy eher gestärkt. Hingegen sind die regionalen Netzwerke von Historiker*innen und Journalist*innen aus osteuropäischen Staaten, welche die IBB gGmbH in den vergangenen Jahren aufgebaut hat, weitgehend auseinandergefallen. Denn eine direkte Zusammenarbeit von zivilgesellschaftlichen Akteuren, Medienschaffenden und Forscher*innen aus Belarus, Russland und der Ukraine ist angesichts des Kriegs derzeit kaum möglich – selbst wenn die belarussischen oder russischen Akteure selbst Opfer politischer Verfolgung in ihren Ländern sind und den Krieg nicht unterstützen. Daher bot die IBB gGmbH ihre Kooperationsformate und Fortbildungen 2022 zumeist in separaten Ländergruppen an, um die unterschiedlichen Bedarfe zu berücksichtigen und erlittene Traumatisierungen insbesondere der ukrainischen Partner*innen nicht zu vertiefen. Gleichzeitig war das Team der IBB gGmbH in einer permanenten Gratwanderung bestrebt, sein eigenes Selbstverständnis als Bindeglied zu bewahren, das verfügbar bleibt, um zu einem späteren Zeitpunkt neue Wege für die Aufnahme des direkten Austauschs zu suchen.

In der Praxis bedeutete dies beispielsweise, dass 2022 nur Geschichtsinitiativen aus Deutschland, Moldau, Polen und der Ukraine gemeinsam an digitalen Projekten arbeiteten. Einzusehen sind diese spannenden Projekte aber alle auf der Digital History Platform, wo auch weiterhin Projekte aus allen langjährigen Partnerländern, einschließlich Belarus und Russland, zu finden sind.

Veränderte Formate und konkrete Hilfe

Auch inhaltlich verlief die Arbeit zweigleisig: So beschäftigten sich ukrainische Geschichtsinitiativen einerseits mit der Erforschung lokaler historischer Ereignisse aus dem Zweiten Weltkrieg, aber auch mit der Dokumentation der Zerstörung historischer Gebäude im Krieg der Gegenwart. Und sowohl für Journalist*innen als auch für Historiker*innen stand neben der professionellen Arbeit stets auch das praktische Engagement für die Verteidigung ihres Landes und zur Unterstützung der unmittelbar vom Krieg Betroffenen im Vordergrund. Auf die humanitären Bedarfe versuchte die IBB gGmbH ebenfalls im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu reagieren: durch psychologische Trainings und Bereitstellung von Notfallapotheken für Journalist*innen, durch den Kauf von Medikamenten für Tschernobyl-Betroffene aus den Partnerorganisationen der Geschichtswerkstatt Tschernobyl in Charkiw, durch Spenden für Menschen mit Behinderungen in der Ukraine oder durch das Engagement für ukrainische Geflüchtete in Dortmund gemeinsam mit unserem Partner Vita e.V.

Über Licht in Zeiten der Dunkelheit: Katia Henrikh (Generation Europe/IBB e.V.) und Roman Blazhan (Minimal Movie) präsentieren Arbeitsmaterial zum Filmprojekt „Generation Ukraine“.
Das durch russische Angriffe zerstörte Gebäude der Gebietsverwaltung in Charkiw. Dieses Gebäude ist ein wichtiges Beispiel für den Konstruktivismus als Baustil, den die ukrainische Initiative ArtOborona im Rahmen des Projekts „Digital History Platform Extended“ dokumentiert hat.

So sehr der Krieg in Europa die Anforderungen an eine Nichtregierungsorganisation wie das IBB verändert, steht doch fest: Als Träger von internationaler Bildungs- und Begegnungsarbeit können und wollen wir die unverzichtbare Arbeit von Hilfsorganisationen, Initiativen der Geflüchtetenhilfe und sonstigen zivilgesellschaftlichen Akteuren unterstützen, aber nicht ersetzen. Unser Schwerpunkt bleibt daher die Bildungsarbeit, um Orientierung in diesen schwierigen Zeiten zu bieten, zivilgesellschaftliche Resilienz zu stärken und politische Veränderungen anzustoßen, die langfristig Wege aus Krieg und Konfrontation weisen. Hierzu gehört auch das Verständnis für die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen multiplen Krisen der Gegenwart zu erhöhen. Zu unseren neuen Bildungsangeboten gehören daher auch Vorträge und Workshops zu den Auswirkungen des Kriegs auf den Klimawandel und den internationalen Klimaschutz.

Zum Statement auf der Website des IBB.